Passend zu meiner Arbeit über den Gerechtigkeitsbegriff in Dürrenmatt’s „Die Panne“, ging letzte Woche der Fall des Luis Diaz um die Welt (siehe CNN-Artikel). Die Fragestellungen, die Dürrenmatt vor gut 50 Jahren entworfen hat sind heute scheinbar aktueller denn je, und das hat mich zu den folgenden Überlegungen geführt.
Luis Diaz, ein Mann, zur lebenslänglichen Haft verurteilt, wird nach 26 Jahren freigesprochen, nachdem per DNS Test seine Unschuldigkeit bewiesen werden konnte. Es ist nicht die Person Luis Diaz, oder seine Geschichte, um die es hier geht, sondern um die Frage wie gerecht unser Rechtssystem wirklich ist. Luis Diaz ist nur einer der Wenigen, dessen Fall es in die internationale Presse geschafft hat, die wirkliche Zahl der unschuldig Verurteilten, die jährlich aus den Gefängnissen der USA (und auch in anderen Ländern) entlassen werden, ist weitaus höher. Aber natürlich liegt es auch im Sinne der Regierungen dies möglichst hinter vorgehaltener Hand zu verkünden, denn jeder Fall von falscher Rechtsprechung wirft Fragen auf, unliebsame Fragen.
Fragen, die es im Jahre 1980 bei der Verhörung von Luis Diaz scheinbar nicht gab, auch wenn die Beweisführung der Anklage offenbar mehr als fadenscheinig war:
Diaz was arrested after a victim who worked as a gas station attendant spotted a driver she said looked like her attacker. She gave police the license plate number, which led them to Diaz.
The convictions were based on identifications made by eight victims in all, even though some of them initially described a much heavier and taller Hispanic who spoke English. Diaz, a Cuban-American, spoke little English and, because of his work as a fry cook, smelled of onions — something no victim mentioned
Wenn man dem CNN-Bericht glauben schenken darf war es ein klassischer Fall von ‚zur falschen Zeit am falschen Ort sein‘. Nicht nur dass die Beschreibung des Täters offensichtlich nur unter Zudrücken beider Augen auf Senior Diaz zutrifft, sondern auch durch die Tatsache, dass dieser als Einwanderer natürlich prima in das Profil des klassischen Sexualtäters passt (die Stereotypen sind bekannt). Den Autoritäten konnte es in dem Fall, wie auch in jedem anderen, nur Recht sein den Medien und den Angehörigen einen Schuldigen zu präsentieren. Man kann natürlich Augenzeugenberichte nicht aus der Anklage streichen, das wäre unmöglich, jedoch wäre unter Umständen eine weitere Überprüfung wünschenswert, gerade jetzt da mit DNA-Tests die Möglichkeit dazu besteht.
Rechtsprechung war schon immer ein wenig Lotterie; Kaum jemand kann verleumden dass selbst das vermeintlich ausgefeilte Rechtssystem westlicher Staaten löchrig ist. Es zeugt immer wieder von Pannen. Und genau das ist der Punkt: Es sind Pannen, nichts weiter, etwas weltliches, etwas dass jedem passieren kann, so zumindestens scheint die öffentliche Meinung davon zu sein. Der ‚kleine Mensch‘ wird so zum Hauptdarsteller in dieser Welt der Pannen. Dass diese, im Namen der Gerechtigkeit, unschuldigen Menschen wie Luis Diaz fast das Leben kosten wird kaum erwähnt. Zu souverän will die Rechtsprechung sein, sie duldet keine Pannen und wenn sie denn auftreten, so werden sie nach bestem Willen vertuscht oder heruntergespielt. Auch im vorliegenden Fall wurde eher darauf gepocht wie schwierig die Wiederaufnahme des Falls war anstatt Fehler einzugestehen:
„It is impossible to ignore the difficulties inherent in retrying five very old cases even under the best of circumstances. Police investigators retire, memories fade, and victims move on with their lives“, the dismissal request said.
Daran wird sich auch vermutlich nie etwas ändern, aber möglicherweise werfen in Zukunft mehr Menschen ein kritisches Auge auf die ach-so-perfekte Judikative.
In diese Welt der Pannen führt unser Weg, an dessen staubigem Rande sich noch einige mögliche Geschichten ergeben, Pech sich ohne Absicht ins Allgemeine weitet, Gericht und Gerechtigkeit sichtbar werden, vielleicht auch Gnade, zufällig aufgefangen, widergespiegelt vom Monokel eines Betrunkenen (Friedrich Dürrenmatt. Zürich 1980.)