“When I’m awake all night, sometimes I see the people and the city waking up around me. I feel a little bit moody at them for stepping into my night-time. What I want is that feeling when you’re in the rain, or a storm. It’s a shiver at the edge of your mind, an atmosphere of hearing a sad, distant sound, but it seems closer – like it’s just for you.”- Burial
Da ist es also, das schwierige zweite Album. Dabei müsste man sich bei Burial eigentlich keine Gedanken darüber machen wie er dieses Problem angeht, denn der pressescheue Londoner scheint von Natur aus über jeglichem Erwartungsdruck zu stehen. Würde man den Künstler in Foucaults Position des Autors stellen, so würde Burial von sich aus den Freitod wählen. Gänzlich abgeschottet, gesichts- und namenlos hinter seinem Werk stehend, ist Burial, der Name, der Künstler, das Individuum seiner Soundidee gewichen, die nur nach seinem Begräbnis möglich ist, und die schon mit dem letztjährigen Debüt eine ganz eigene Nische zwischen Dubstep und UK Garage eingenommen hat.
Untrue spinnt diese Idee weiter, subtil, aber wirksam. Manche werden sagen sein Sound hat sich nicht viel weiterentwickelt, aber es ist weniger der Sound, der sich ändert, als die Atmosphäre, die Wirkung. Wie auch der Vorgänger, den man eigentlich eher als Prequel ansehen sollte, ist auch Untrue voller Lo-Fi Rhythmen, rumpelnder Drums, die immer etwas neben dem Takt stehen, voll mit Keyboard und Synth Pads, tiefen Bässen, Reverb und cineastischen Streichersektionen. Ein unglaublich dichter, komplexer Sound. Die Metaphern, die auch schon beim ersten Album Verwendung fanden, sind immer noch gültig; es ist ein Album für die Nacht, ein Album, das sich aus dem frühmorgendlichen Nebel erhebt, dass über den Äther der Piratensender in London durch verlassene Straßen hallt, sich unter flickernden Neonlichtern im Regen auflöst, ein Album für die Einsamen, ein Album für die Wachgebliebenen. Doch wo das Debütalbum noch wenig Platz für Hoffnung ließ, fast apokalyptisch wirkte, gibt uns Untrue etwas anderes: Hoffnung. Leidenschaft.
Dabei kann man den Sound von Burial sicher nicht als kalt bezeichnen, denn dafür ist er zu organisch, zu menschlich. Zwischen den außerweltlichen Drums und Percussion Pattern findet sich immer wieder Knistern, Feuer, Regen, das Durchladen einer Pistole, Schritte, Atmen, Stimmen – und Vocals. Mehr als je wird der Einschlag von UK Garage sichtbar, wenn sich die verdrehten, gepitchten und geloopten Vocalschnipsel aus dem Nebel erheben. Es sind nur Fragmente, gerade ausmachbar, mal männlich, mal weiblich, mal androgyn, vielleicht etwas cheesy – I can’t take my eyes off you – I can see why I love you – aber sie brennen sich mit unheimlicher Wirksamkeit in das Gedächtnis des Hörers, der sich gelegentlich dabei ertappen wird diese Zeilen mitzusingen. Es ist als würden die Seelen verstorbener R&B Legenden aus der Ferne zu einem singen. Doch es sind nicht nur die Mehrzahl an Vocals die den Unterschied ausmachen: Zwischendurch gibt es zum Ausgleich immer wieder beatlose Ambientstücke, die gerade bei In McDonalds und UK für Momente unglaublicher Schönheit sorgen; Momente in denen sich der Nebel der Stadt zu lichten scheint, zumindestens für kurze Zeit, denn für Sonnenschein ist es noch zu früh.
Schon der zweite Track Archangel zeigt an worum es geht, wenn breite Streicher auf die typischen Drums treffen, und unter dem allgegenwärtigen Knistern die Vocals ein durchdringendes Gefühl der Sentimentalität erzeugen. Es sind die Momente wie bei Etched Headplate, wenn eben diese Vocals ins Unendliche gepitcht werden, und die Percussion so reduziert ist, dass sie nur aus dem Auf- und Zuklappen eines Feuerzeugs zu bestehen scheint. Es sind Momente wie die herunterfallenden Patronenhülsen bei Near Dark, oder das Break im Titeltrack, wenn für wenige Sekunden die Bassline im Herzschlag Rhythmus pulsiert, die sich einbrennen. Und dann zum Schluss dieses Highlight: Raver. Wer spätestens hier noch nicht überzeugt ist, bekommt zum ersten Mal Burial im 4/4 Takt serviert, auch wenn der Track selbst dagegen anzukämpfen scheint, sich windet und dreht, nur um dann doch tatsächlich den Hi-Hats freien Lauf zu lassen, und unter den blatantesten Streichern des Albums in einen Moment völliger Euphorie versinkt. Ein Indiz darauf was hier in Zukunft noch kommen mag? Untrue ist für den Moment jedenfalls schon ein komplexeres, tieferes und zugänglicheres Album als der Vorgänger, eine konsequente Weiterentwicklung des gleichen Sounds.
Nach all den schönen Worten fehlt also noch ein Fazit. Um im oben erwähnten post-strukturalistischen Rahmen zu bleiben kann man sagen, dass Untrue ein Album ist, dass man nicht lesen [hören] sondern selbst schreiben muss. Ein Album, das so simpel und doch so vielschichtig ist, und dessen Bedeutung nur vom Hörer selbst definiert werden kann. Man muss sich darauf einlassen um es zu spüren, man muss es nachts hören, man muss die Augen schließen, den Regen durch den Sound förmlich heraus saugen, und früher oder später werden sie einschlagen, die Stimmen aus dem Nichts, die unbalancierten Drums, die Emotionen. Sie scheinen weit entfernt zu sein, aber sie sprechen zu dir, wenn du dich denn darauf einlässt.
Ein epochales Werk, das zusammen mit dem Vorgänger eines der wichtigsten Alben und Soundkonzepte des Jahrzehnts bildet. Und Burial selbst steht, in den Worten von Philip Sherburne, mit den Händen in den Taschen und dem Rücken zum Publikum am Rande…schweigend…vielleicht lächelnd.
Läuft bei mir auf Repeat. Ganz großes Kino. Burial hat übrigens auch einen super Remix für die aktuelle Bloc Party 12″ gemacht, der eigentlich auch gut auf Untrue passen würde.
@ Carsten: das wäre auch mein Kommentar gewesen
+1
Ja, zum Einschlafen im Zug hör ich das manchmal. Epochales Werk? Hmm…
Ein gutes Album erkennt man auch in den gegensätzlichen Meinungen die es hervorruft ;)
burial und untrue – 2 ganz nette alben, mehr nicht.
elektronische musik ist in viiielen ecken intelligenter, emotionaler, vielschichtiger.
da bieten selbst viele netlabel mehr beachtenswertes. hier funktioniert einfach mal
wieder die pressemaschine. besonders untrue wirkt durch die wiederholt gleich
bearbeitenden vocals nach ein paar songs fast schon nervig.
also schlecht auf keinen fall – aber weit weg von herausragend.
meine empfehlung: das letzte deepchord album und mit offenen ohren die musikwelt
selbst erkunden. entdeckungen garantiert.
@ rocco: es geht mir nicht darum wie intelligent und emotional das album ist (das liegt ohnehin nur beim hörer selbst und was er damit verbinden kann), sondern dass es einen sound besitzt, der einfach einmalig ist. einen burial track hört man aus hundert anderen im gleichen genre sofort heraus.
natürlich wurde das album relativ gehyped, aber ich bin der letzte der ein album nur anhand der bekanntheit verurteilt. alles hören kann man nicht, und viele sachen werden leider niemals die anerkennung bekommen die ihnen zusteht. das war aber schon immer so.
zu deepchord: dieser sound ist alles andere als neu. gut gemacht, aber gehört hat man so etwas schon vor zehn jahren aus berlin und detroit.
einen sound wie den von burial nicht.